Wie eine Schaufensterpuppe mein Selbstbild zerstörte.

Pic by @rad.timez

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Als ich ungefähr vier Jahre alt war, habe ich meine erste Barbie geschenkt bekommen. Von meiner Patentante. Es war eine Doktorbarbie, mit eingebautem Stethoskop, aus dem die Töne eines Herzschlages kamen, wenn man draufgedrückt hat. Natürlich hatte meine Doktorbarbie wie alle anderen Barbies eine wahnsinnig dünne Taille, große, wohlgeformte Plastikbrüste und eben diese endlos langen, schlanken Beine, von denen wir Frauen* heute noch träumen. Ich denke, wie ich damals bekommen auch heutzutage noch jede Menge junger Mädchen* auf der ganzen Welt ihre erste Barbiepuppe. Abgesehen vielleicht von den Prenzlauer-Berg-Töchtern, deren Mütter* es für wertvoller erachten, ihren Kindern Holzspielzeug zum pädagogisch wertvollen Spiel zur Verfügung zu stellen. Aber seien wir mal ehrlich: spätestens in der Kita, im Kindergarten oder bei den Freundinnen* zu Hause hält jedes Mädchen* früher oder später mal eine Barbie in der Hand, bewundert sie, kleidet sie an und aus und will sie dabei möglichst hübsch aussehen lassen. Und ich möchte behaupten, dass nicht wenige der kleinen Mädchen sich dabei wünschen, genauso perfekt zu sein wie Barbie.

Heute sind wir groß. Mehr oder weniger. In meinem Fall weniger. Erwachsen jedenfalls. Theoretisch wissen wir, dass Barbie, wäre sie ein lebensgroßer Mensch, nicht stehen, geschweige denn überleben könnte. Sie müsste auf allen Vieren durchs Leben kriechen. Sie könnte ihren Kopf nicht heben, der wäre nämlich doppelt so groß, wie der eines normalen Menschen. Mal ganz abgesehen davon, dass zwischen Barbies schmale Taille nicht mal ansatzweise alle lebenswichtigen Organe passen würden. Aber wer braucht schon eine vollständige Bauchspeicheldrüse?!

Im Internet findet man seit einigen Jahren auf verschiedenen Plattformen Vergleiche, wie Barbie aussähe, hätte sie die Proportionen einer “normalen” Frau* (whatever that is). Der amerikanische Designer Nickolay Lamm hat sich sogar in den Kopf gesetzt, eine Barbiepuppe mit “Standard”-Maßen zu produzieren. Mehr dazu könnt ihr zum Beispiel auf Buzzfeed lesen. Aber mal unter uns? In meinen Augen sieht die natürliche Barbie irgendwie seltsam aus. Ein bisschen untersetzt. Ihr Hals scheint mir so kurz und dick zu sein. Da sieht man mal, wie geprägt ich bin von diesem Barbie-Idealbild, mit dem ich aufgewachsen bin.

Aber ich will an dieser Stelle nicht nur Barbie die Schuld in die Stöckelschuhe schieben. Werden wir doch jeden Tag von allen Seiten bombardiert von Bildern, Reklamen, Anzeigen, mit all diesen schlanken, schönen Frauen*. Models, deren Hauptnahrungsmittel aus ungefähr einem Apfel und ein bisschen Abführmittel am Tag besteht. Wie ungesund das Modelleben ist, dass so ziemlich alle Models magersüchtig und darüber hinaus bis zum Erbrechen gephotoshopt sind, wissen wir nicht erst seit kurzem. Regelmäßig gibt es Artikel darüber.

Wie zum Beispiel kürzlich im Zeit Magazin, in dem wir Informationen aus allererster Hand nachlesen können. Einen Erfahrungsbericht sozusagen. Ein Erfahrungsbericht, der uns zeigt, dass das vorherrschende Schönheitsideal nichts weiter als ungesund ist.

Was ich mich frage, ist, wieso sich eigentlich kaum jemand über Schaufensterpuppen echauffiert, wenn es um die ganze Schönheitsidealdebatte geht. Sind Schaufensterpuppen nicht im Grunde Barbies für Erwachsene? Klar, wir spielen nicht mit ihnen wie früher mit unseren Puppen. Aber nehmen wir mal an, wir gehen shoppen. Natürlich schauen wir uns zunächst die Schaufenster an, bevor wir in einen Laden gehen. Gefällt uns das, was die Schaufensterpuppen tragen, betreten wir den Laden. Oftmals wird der ganze Laden durchforstet, bis eben das Kleidungsstück der Schaufensterpuppe gefunden ist. Noch schnell die richtige Größe herausgesucht und ab in die Umkleidekabine. In der Regel kommt mit dem Schließen des Vorhangs auch der Frust. Es muss doch an dem Licht liegen, dass meine Haut auf einmal so fahl und dellig aussieht. War die Speckrolle hier schon immer da? Und überhaupt war mein Körper auch mal straffer. Frustriert wird das Teil nicht gekauft, sondern zurückgehängt und mit hängenden Schultern der Laden verlassen. Mit  einem  letzten wehmütigen, neiderfüllten Blick auf die große, schlanke Schaufensterpuppe, der der Bikini so viel besser stand als mir. Aber Halt! Stopp!! Was glitzert denn dahinten am Bikini so komisch? Das wäre mir bei der Anprobe doch aufgefallen, hätte ich Glitzersteinchen am Hintern gehabt. Schließlich hab ich ja gründlich genug in den Spiegel geschaut. Bei genauerem Hinsehen fällt mir auf: Stecknadeln! Stecknadeln, die eine Größe 34 an diesem dürren Puppenkörper halten und straff ziehen.

Ich bin nicht die erste, der das aufgefallen ist. Googelt man ein bisschen, kann man mehr Leute finden, die es verwundert, dass gebräuchliche Schaufensterpuppen so dünn sind, dass ihnen nicht mal Kleidergröße 34 passt. Schaufensterpuppen sind in der Regel um die 1,90m groß und haben die Maße 81/56/81. Bin ich die einzige, die sich da wieder an Barbie erinnert fühlt? Wusstet ihr, dass Schaufensterpuppen in den vergangenen 30 Jahren radikal abgenommen haben? Vergleicht man sie mit realen Frauen*, sind ist der durchschnittliche Oberschenkelumfang einer Puppe 10cm kleiner, der Hüftumfang sogar 13,5cm. Doch es geht noch weiter als diese bereits absurden Körpermaße der Puppen. Im Mai dieses Jahres machte die italienische Marke für Luxus-Dessous La Perla Schlagzeilen mit Schaufensterpuppen, bei denen sich deutlich die Rippen abzeichneten. Allerdings standen diese in New York und wurden entfernt, nachdem sich ein wütender Kunde darüber beschwerte. Dennoch bleibt ein übler Nachgeschmack.

In den meisten Reklamen, die uns durch Zeitschriften, das Internet oder das Fernsehen unter die Nase gerieben werden, ist man wenigstens noch so nett, die Knochen der Models wegzuretuschieren, sodass man ihnen die Magersucht nicht auf den ersten Blick ansieht. Mit Kleiderpuppen, denen nicht nur Größe 34 zu groß ist, sondern deren Knochen auch noch vorstehen, wie bei einem Skelett, wird dem Käufer ein noch krasseres Schönheitsideal suggeriert. Man möchte meinen, Frauen* mit einer schlanken 38 brauchen einen derartigen Laden gar nicht erst zu betreten. An einem Laden entdeckte ich kürzlich ein Schild mit der Aufschrift „Wir führen auch große Größen.“ Aha. Was genau sind denn dann bitte große Größen?

Wenn mittlerweile schon die Schaufensterpuppen an Magersucht leiden, wie sollen Mädchen* und Frauen* dann ein gesundes Körpergefühl aufbauen? Wenn wir von allen Seiten mit Standards bombardiert werden, die mit gesunden Mitteln nicht einzuhalten sind? Und wenn ich als jemand ohne Einschränkungen schon Komplexe bekomme, wenn ich mir so ein Puppe anschaue, wie mögen sich dann wohl Menschen fühlen, die zum Beispiel durch Behinderungen niemals einem solchen Schönheitsideal entsprechen werden. Nur weil sie nicht einem bestimmten, durch Medien- und Modewelt vorgeformten Schönheitsideal entsprechen, heißt es erstens noch lange nicht, dass sie nicht schön sind und zweitens bedeutet es nicht, dass sie nicht auch gerne in angesagten Läden modische Kleidung kaufen würden. Die Schweizer Organisation Pro Infirmis hat schon im Dezember 2013 auf diese Problematik aufmerksam gemacht: Fünf Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen standen Modell, um maßstabgetreue Schaufensterpuppen ihrer Körper anfertigen zu lassen. Diese wurden in der Weihnachtszeit in fünf Läden der Züricher Bahnhofstraße ausgestellt. Das Video dazu gibts auf YouTube.

Ich für meinen Teil würde zum Ende des Videos gerne in die Köpfe der Menschen sehen können, die die Puppen in den Schaufenstern begutachten. Was denken sie? Finden sie schön, was sie sehen? Finden sie es abstoßend? Passiert überhaupt irgendetwas in ihren Köpfen oder sind wir mittlerweile so abgestumpft, dass wir derlei Aktionen einfach ignorieren, weil es unser Weltbild zu sehr verschieben würde, uns damit auseinander zu setzen?

Wir sind ja sowieso wahre Verdrängungsweltmeister*innen. Und dann gibt es aber wieder diejenigen, die nicht so gut im Verdrängen sind. Vielleicht gehe ich zu weit, wenn ich den Medien, den damit verbundenen Schönheitsidealen und Barbie Erkrankungen wie Magersucht und Bulimie in die Schuhe schiebe. Aber es fällt doch auf, dass es in Ländern mit anderen Schönheitsidealen auch weniger Fälle solcher Krankheiten und psychosomatischer Störungen gibt.

Anscheinend fällt es nicht nur mir auf, welchen Einfluss Schaufensterpuppen auf unsere Schönheitsideale, unser Selbstbild und damit auch unsere Psyche haben können. Das mag wohl der Grund sein, wieso die spanischen Schaufensterpuppen zunehmen müssen. Und der Auslöser für Kleiderpuppen, wie man sie in einem schwedischen Kaufhaus finden kann: Puppen in verschiedenen Ausführungen, um der Diversität des Frauen*körpers besser entsprechen zu können. Wieso es diese Puppen nicht in mehr Läden gibt? Keine Ahnung, vermutlich ein finanzieller Grund. Es ist doch wesentlich günstiger und einfacher, beim Magerwahn mitzumachen und die dürre Massenware zu kaufen, als in individuellere Schaufensterpuppen zu investieren.

Abschließend frage ich mich: Wer hat überhaupt beschlossen, dass es schön ist, Oberschenkellücken zu haben, durch die man locker Volleyball spielen könnte? Wer sagt, dass Rippen zählen können sexy ist? Was ist an herausstehenden Schlüsselbeinen attraktiv? Und wer überhaupt ist Schuld daran, dass ich mich seit meinem verdammten 14. Lebensjahr nicht mehr wohl gefühlt habe in meinem Bikini, wegen „zu viel Hüftspeck“ und weil mein Bauch nicht so flach war wie der von den Popstars in der Bravo?

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Ein Mal. Und noch ein Mal. Und noch ein Mal.